Über das Begreifen und das Gestalten

Stellen sie sich vor, sie hätten kein Schwere-Erlebnis, würden keinen Widerstand erfahren, hätten keine Möglichkeit sich tastend über die Beschaffenheit und das Gewicht der Dinge zu vergewissern – sie hätten kein Verstehen, keinen „Boden unter den Füssen“, sie hätten keine Möglichkeit in der Welt Fuß zu fassen.

  

Druck, Wärme, Hautkontakt,  Tasten, Greifen, Fassen, Schmecken…  die erspürende handgreifliche Verbindung mit allen Dingen seiner Umgebung ist die Grundlage tätiger Welterfahrung für den Säugling und für das Kleinkind (der Säugling will die Dinge nicht nur begreifen, er will sie schmeckend in sich aufnehmen).

 

Der Tast- und Bewegungssinn als Basis der leiblichen Erfahrung gewährt das Aufwachen am Widerstand der dinglichen Welt, er verhilft dazu, im Leibe „Fuß zu fassen“. In der Sinnestätigkeit, der Beanspruchung der Körpermechanik, in der wieder und wieder geleisteten Anstrengung entwickelt sich das Individuum. Darüber wächst es hinein in die Zusammenhänge, Gegebenheiten und Bedingungen der Welt. Tätiges Schaffen und die vielfältigen nuancierten Erlebnisse am Tun lassen gesättigte Begriffe reifen.

 

Solche Basis bleibt dem bildenden Menschen. Dieser prüft die Materialien, die er bearbeitet, er „schmeckt“ sie. Der Handwerker hat derart ein bodenständiges Verhältnis zu den Dingen. Der bildende Künstler berührt, indem er sich für die Eigenschaften und Qualitäten der Dinge und Phänomene in ihre „So-Sein“ und ihren Wechselverhältnissen, empfänglich stimmt, wieder die Dimension der offenbaren Geheimnisse (Goethe), die er als Kleinkind nach und nach verlassen hat.

 

Die im tätigen Umgang mit den Dingen und Phänomenen der Welt gewonnene Vergewisserung ist das tragende Fundament, das uns sicher in ihr stehen lässt. Die in dieser Verbindung wachsende Erfahrung und Erkenntnis bildet das Firmament des uns eigenen Verständnishorizontes.  

                                                                    

Bildung ist umso fruchtbarer, je reicher das zu gewinnende Wissen durch tätige Erfahrung gefärbt und gerundet wird, die Zusammenhänge möglichst handgreiflich-handelnd begriffen werden.

 

Begreifen – das ist ein bildhaftes Wort, weil es eben das Handeln und das über das Handeln gewonnene Verstehen zum Ausdruck bringt –und bildhafte Sprache wird der Ebene, um die es mir geht, wohl am ehesten gerecht. Es geht mir darum Sinnzusammenhänge zu umkreisen, ihnen aus verschiedenen Blickwinkeln in bildhaften Formulierungen nahezukommen.

  

Begriffe sind Auffassungsformen, Wahrnehmungskanäle – wir modellieren über unsere Begriffe, die uns zugänglichen Facetten der Welt in ihre Unterschiede hinein. Über die intuitiv erfassten Begriffe an unseren Wahrnehmungen gestalten wir die Wirklichkeit, wie sie uns zugänglich ist. So werden Begriffe Behälter für Erfahrung und Sinn.

                                                       

Begreifen führt zu Erfahrungswissen und zu bildhaften Begriffen. Das Wissen um die Dinge lässt sie uns verstehen  –  und es verstellt uns zugleich die unmittelbare Erfahrung, wenn es nicht erfahrungsgesättigt erworben wurde. Das herausgelöste Wissen über die Dinge belastet zugleich den unmittelbaren Zugang zu ihnen. Hier liegt ein fataler Antagonismus, ein Dilemma, mit dem Bildung einhergeht. Das - denke ich ist eines der Grundprobleme von Schule. Man darf sich deßhalb nicht wundern, wenn ein Großteil des dargebotenen Wissens sang- und klanglos verpufft, wenn Antworten gegeben werden, ohne dass es Fragen gab, wenn die Betroffenheit, die zu Fragen führt den Antworten nicht voraus ging…

  

Nun zurück zu Anfang:                                                                            

Schwere, Widerstand, Schmerz.. sind uns Herausforderung zum Aufwachen an der Welt, fordern uns, in ihr Fuß zu fassen, uns aufzurichten und auszurichten. Die facettenreichen Widerstände, die es zu bewältigen gilt führen zu bodenständiger Erfahrung, befördern praktisches und zweckmäßiges Handeln, führen gegebenenfalls ins Berufsfeld der Handwerker, Techniker, Ingenieure… Diese wissen zweckmäßig und pragmatisch auf Fragen einzugehen und Aufgaben zu lösen…

  

Sind unsere Erfahrungen zugleich begleitet von drängender, belebender, beglückender, schmerzhafter… Betroffenheit, führt diese folgerichtig zu einem Ausdrucksbedürfnis - und es gibt zahllose mögliche Wege, in welche sich solches Bedürfnis hinein lenken lässt.

  

Der handgreiflichste Weg ist wohl das bildnerische Gestalten. In die Hand, die Fingerspitze, in den von der Hand geführten Stift, den Pinsel… kulminiert die Intention. Dorthin kanalisiert und konzentriert sich das Anliegen, das Ausdrucksbedürfnis. Die Hand graviert das empfindungsgeführte Anliegen in die Welt hinein.

 

Bringt jemand ein selbstvergessenes Maß an liebevoller oder leidvoller Intensität ins Spiel, trägt das Arbeitsergebnis, das was bleibt, womöglich ein Geheimnis in sich…

  

Selbstverständlich sind es nicht nur Stift oder Pinsel, die unserem Gestaltungsbedürfnis dienen. In den Werkzeugen haben wir die Verlängerungen und optimierten Ergänzungen unserer manuellen Möglichkeiten. Der Hammer, die Zange, der Bohrer, der Meißel, das Messer… und in den Maschinen haben wir die Werkzeugfunktionen verstärkt durch eine Kraftquelle, den Motor, als Ergänzung unserer Körperkraft und Körpermechanik. Sie steigern unser Leistungsvermögen und eröffnen eine ganz andere Größenordnung der Gestaltungsmöglichkeiten.

  

Nicht genug damit – im Computer haben wir ein Hilfsmittel, welches nahezu alle Gestaltungs-möglichkeiten perfektioniert verfügbar macht und in Verbindung mit Werkzeugmaschinen ins nahezu Unermessliche eröffnet  –  wobei der unmittelbare handgreifliche Arbeitsanteil zunehmend in den Hintergrund rückt.

 

Darin liegt ein neues Dilemma  –  der Verlust der elementaren Fertigkeiten… 

Erfüllende Arbeit wird gespeist aus dem unmittelbar körperlichen Involviert-sein. Diese ist wie Nahrung, wie nährende Substanz.

  

Das Wort  Bildung in seiner Doppelbedeutung meint auch  – in unserem bildenden Tun bilden wir und formen wir uns selbst durch die sinnlich-schöpferische Teilhabe an der Welt.

  

Mit dem vorliegenden Text wird ein Menschenbild des begreifenden und gestaltenden Menschen umrissen.

 

Mai 2010