Gestalten bedeutet Form finden - Dinge, Eigenschaften, Qualitäten in einen selbstgewählten, neugesetzten Zusammenhang bringen. Im künstlerischen Bereich wird dieses Tun gezielt geübt, mit der Suche nach stimmiger überzeugender, schöner, geschmackvoller, zeitloser Lösung.
Doch auch in sozialen und pädagogischen Zusammenhängen kann man von Gestaltung und Formfindung sprechen.
Joseph Beuys, einer der bedeutendsten und zugleich umstrittensten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts sprach von der "sozialen Plastik" als dem lebendigen und künstlerischen Gebilde der Zukunft, an dem mitzugestalten sich jeder Mensch ("Jeder Mensch ist ein Künstler") herausgefordert sehen kann.
In diesem Gedanken steckt auch die Vision einer "Erziehungskunst" als schöpferischem Wirken im pädagogischen Sinne, als soziales Formen, Plastizieren und Gestalten. Anders gesagt: Auch was ich im Sozialen, Zwischenmenschlichen bewirke, kann künstlerische, also intuitive und ästhetische Formfindung sein.
Werk- und Kunstpädagogik führt hin und begleitet auf dem Weg zu verschiedenen Möglichkeiten gestalterisch, bildnerisch, darstellerisch in die Lebensumwelt hineinzuwirken, in ihr Ausdruck zu finden. Sie bietet den Rahmen für praktisches Tun, in dem sich Wahrnehmen, Denken, Entscheiden und Handeln zu einer umfassenden Gestaltungsarbeit verbinden.
Eine Besonderheit solch konkret-sinnhafter Arbeit besteht darin, dass hier Scheitern und Gelingen real und personal erlebt werden. Spiegelung und Selbstbestätigung am Arbeitsergebnis ist möglich.
Aber vielleicht noch wichtiger als das entstehende Produkt, seine Gefälligkeit oder Verwendbarkeit, ist die Arbeit der Gestaltung als Prozess, als komplexer Ablauf einer bewußtseins-, empfindungs- und willensgetragenen Eigenaktivität.
Kunstpädagogik konfrontiert und macht vertraut mit verschiedenen Ausdrucksmitteln, sowie mit Formen der Vermittlung gestalterischer Anregungen und Fertigkeiten. Sie will letztendlich aber nicht den Stile- und Methodeneklektizisten (virtuoser Nachahmer) sondern den freien Menschen fördern, der im Idealfall die Wachheit und Unvoreingenommenheit aufbringen kann für jede Situation, jede neue Aufgabe eine spezifisch einmalige Lösung zu suchen.
Wünschenswert, erstrebenswert ist eine fachliche Souveränität als Grundlage.
Pädagogische Methoden sind eine Hilfe, ermöglichen Struktur und Rahmen…- Sie sind sekundär. - Primär wäre die persönliche Authentizität. Nicht die Methoden sind das Leitbild, vielmehr die Freiheit im Umgang mit Formen und Methoden, die freie Beweglichkeit in den Formen, das "souveräne Spiel"… Wie sich dem Musiker, der sein Instrument zu spielen gelernt hat die Dimension der freien Improvisation eröffnet, das aus der Gegenwart gegriffene freie Spiel im Feld der musikalischen Möglichkeiten… so wäre eine lebendige Erziehung denkbar, als situations- und personenorientierte "Formfindung"… im Handlungsfeld der pädagogischen Möglichkeiten.
Alles was uns umgibt in der sichtbaren Welt hat Gestalt und Form. Aber auch für den nichtsichtbaren Bereich - den der Beziehungen, die wir pflegen, der Regeln, denen wir folgen, oder der Gedanken, die wir denken - gilt: Alles hat mehr oder weniger ausgeprägte Form, es ist gestaltet.
Es sind Schöpfungen - zum einen naturgegeben, zum anderen von Menschen bewirkt.
Diese Formen geben Halt, sie stützen unser Dasein. Die dinglichen Formen, die seelischen Formen, die Begriffe und Regeln. Doch sie verbergen ihre eigene Quelle. Das Bild des Flüssigen, des Beweglichen gehört zum Begriff Schöpfung: aus dem Flüssigen wird geschöpft, was bis zur fixen Gestalt Verdichtung erfahren kann.
Die Formen und Strukturen geben Halt und Stütze, doch im Beweglichsein erfahre ich mich lebendig.
Vor, zwischen, über den Formen ist das lebendige Sein, aus dem die Schöpfungen erfolgen können…
April 1998