Der Mensch mit Gestaltungswillen hat in den naturgegebenen Materialien ein weites Spektrum von Stoffen, die ihm Anregung geben und eine Herausforderung zum Formen sein können. Über die Arbeit mit dem jeweiligen Material wird es zum Erlebnis, wie dieses in seinem Eigencharakter klingt, wie es seine spezifischen Eigenschaften unter der bildenden Hand offenbart.
Der Tradition nach lassen sich folgende Begriffe zuordnen:
Stein – Skulptur
Erde, Ton – Plastik
Zweige, Fasern von Pflanzen – Gewebe, Geflecht, textile Plastik
Das Interesse an verschiedenen Materialien und der Umgang mit ihnen versetzt den Bildner in ein jeweils spezifisches Verhältnis zur Natur und zur Umwelt.
Ist es beim Stein der geologische Zusammenhang des Vorkommens als Findling oder Bruchstein, seine Härte, sein Gewicht, seine Kälte, seine mehr oder weniger monolithische Unbeugsamkeit… so ist es beim Flechtmaterial (für mich vor allem Weidezweige) der Kontext des Jahreszyklus von Wachstum und Saftruhe in der blattlosen Zeit; das Vorkommen an besonderen Orten: Auwiese, Bach- und Flussufer, Wegrand, Waldlichtung, sowie der verblüffende Artenreichtum der Weidengewächse.
Erstaunlich ist die Reaktion der geschnittenen Triebe auf die Veränderung der Luftfeuchtigkeit – von extremer Windbarkeit im frischen Zustand bis zu spröder, brüchiger Steifheit nach dem Trocknen. Trotz ihrer Elastizität ist den Weidentrieben eine erstaunliche Festigkeit eigen, so dass das Flechten den Einsatz der ganzen Körperkraft verlangt.
Die Arbeit des Flechtens ist ein fortwährendes Beugen, Biegen und Verwinden der Zweige um sie in der Richtung der eigenen Form-Idee zu lenken und zu halten. Das gelingt nur annähernd. Unter anderem dieser Aspekt unterscheidet die geflochtene Plastik von der perfekten Homogenität des Gebrauchsgegenstandes, der handwerklich tadellosen Arbeit des professionellen Korbflechters.
Die geflochtene Plastik verkörpert eine Form-Idee, belebt und individualisiert durch die Eigenheit und Unregelmäßigkeit des verwendeten Materials. Spannend ist die Suche nach möglichen Formen, die das Material zulässt. Mit den Erfahrungen in der flechterischen Arbeit wächst das Gefühl für materiallogisches Vorgehen, für Möglichkeiten und Grenzbereiche textiler Plastik. Es entsteht nach und nach eine eigene Welt transparent leichter Körper, die für manchen Betrachter ein Geheimnis in sich tragen.
Januar 1996